Jahresinterview 2025: Rück- und Ausblick der Unternehmerschaft Niederrhein
Jahresinterview 2025: Rück- und Ausblick der Unternehmerschaft Niederrhein
Krefeld. Die anhaltende, tiefgreifende strukturelle Wirtschaftskrise hat im vergangenen Jahr auch bei der Wirtschaft am linken Niederrhein Spuren hinterlassen. Schwache Wachstumsperspektiven, unzureichende Standortbedingungen, die
die Unternehmen mitten im Strukturwandel treffen, sowie globale sicherheits- und handelspolitische Unsicherheiten machen es für die Betriebe in der Region nach wie vor schwer, ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen und damit den Abwärtstrend
stoppen zu können. Mehr denn je gilt es daher, zusammenzustehen und sich klar zu einer starken Industrie als Garant für Wohlstand, Beschäftigung und Stabilität zu bekennen.
Kirsten Wittke-Lemm, Hauptgeschäftsführerin der Unternehmerschaft Niederrhein erläutert im Gespräch, was die Betriebe dieses Jahr bewegt hat – und welche Weichen 2026 gestellt werden müssen.
Deutschland durchläuft eine Phase massiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen. Was brauchen Unternehmen, um wieder an Stabilität zu gewinnen?
Wir benötigen eine klare politische Linie und vor allem noch mehr Tempo bei der Umsetzung zwingend erforderlicher Reformen, die langfristiges Wachstum ermöglichen. Unternehmen brauchen Planbarkeit, schnelle Entscheidungen und verlässliche
Rahmenbedingungen, die Investitionen fördern statt behindern. Dazu gehören insbesondere ein umfassender Industriestrompreis, der den industriellen Mittelstand vollständig erfasst, sowie schlanke Genehmigungsverfahren. Entscheidend ist ein insgesamt
über alle Ebenen hinweg wirtschaftsfreundlicher politischer Kurs, um Vertrauen in den Standort zu stärken und ihn wieder zu dem zu machen, was er sein soll und sein kann: ein starker, technologieoffener Innovations- und Investitionsstandort.
Wie ist die aktuelle Produktionslage in den regionalen Industrien?
Bundesweit liegt die Auslastung der chemischen Industrie bei durchschnittlich nur noch rund 70 Prozent – ein Wert, der auch am linken Niederrhein spürbare Auswirkungen hat, da viele Betriebe damit nicht einmal mehr ansatzweise rentabel wirtschaften
können. In der Metall- und Elektroindustrie ist die Produktion seit 2019 bundesweit um 23 Prozent eingebrochen. Auch wenn die Unternehmen – im Zusammenspiel sowohl mit den Belegschaften als auch mit den Sozialpartnern – alles dafür tun, um die
Beschäftigung soweit als möglich zu halten, sind die Folgen bereits spürbar: Anlagenschließungen sowie der Verlust gut bezahlter Industriearbeitsplätze – leider auch schon hier in unserer Region.
Deutschland fällt im internationalen Standortwettbewerb weiter zurück. Was sind die Ursachen?
Ein zentraler Faktor sind neben den nach wie vor zu hohen Energiekosten vor allem Arbeitskosten, die nicht wettbewerbsfähig sind – insbesondere aufgrund explodierender Lohnzusatzkosten. Die Beiträge für Renten-, Kranken-, Pflege- und
Arbeitslosenversicherung liegen auf dem Weg von zuletzt rund 40 Prozent auf 50 Prozent, was die Produktion erheblich verteuert und die Wettbewerbsfähigkeit schwächt. In diesem Zusammenhang auch ein weiterer Effekt zulasten unserer Beschäftigten: Sie
haben dann weniger Netto vom Brutto, was wiederum negative Folgen für privaten Konsum und Investitionen mit sich bringt. Auch die überbordende Bürokratie macht dem Standort Deutschland zu schaffen: Genehmigungsverfahren, etwa für Bauprojekte, dauern
noch immer zu lange und blockieren dringend benötigte private Investitionen. Um den Strukturwandel zu beschleunigen, müssen mehr Flächen für neue Projekte ausgewiesen und Verfahren deutlich vereinfacht werden.
Welche Rolle spielen die Sozialpartner in diesen herausfordernden Zeiten – sowohl für die Wirtschaft als auch für die Gesellschaft?
Eine gut funktionierende Sozialpartnerschaft trägt zur politischen Stabilität bei und gewinnt insbesondere angesichts der Polarisierung in unserer Gesellschaft mehr und mehr an Bedeutung. Zudem ist sie eine Säule unserer sozialen Marktwirtschaft und
damit ein ganz wesentlicher Standortfaktor. Als Sozialpartner nehmen wir – obgleich wir unterschiedliche Interessen vertreten – gemeinsam unsere Verantwortung wahr, indem wir uns stets auf Augenhöhe begegnen, auf Fakten setzen, miteinander reden und
für tragfähige Kompromisse sorgen. Deshalb ist es wichtig, uns Handlungsspielräume zu eröffnen und von staatlichen Detailvorgaben abzusehen, was wir auch immer wieder gegenüber der Politik einfordern.
Der Fachkräftemangel war auch 2025 ein dominierendes Thema. Welche Maßnahmen hat die Unternehmerschaft Niederrhein ergriffen, um junge Menschen frühzeitig für Technik und Naturwissenschaft zu begeistern und ihr Interesse für die Industrie in der
Region zu wecken?
Um unsere Fachkräfte von morgen zu finden und dann auch dauerhaft an die heimische Wirtschaft zu binden, konzentrieren wir uns darauf, die jungen Menschen da abzuholen, wo sie stehen und ihnen die nötigen Future Skills zu vermitteln. In der Region
gibt es ein bestens funktionierendes Netzwerk, in dem zahlreiche engagierte Menschen genau daran arbeiten. Dabei sind praxisnahe Begegnungen mit Unternehmen entscheidend. Diese bieten wir gemeinsam mit unseren Partnern mit Formaten wie der
Chemie-Akademie Krefeld, unseren Berufsparcours, dem Chemie-Aktionstag und zahlreichen Schulkooperationen. Aber auch über unseren Regionalwettbewerb Niederrhein von „Jugend forscht“ bringen wir Kinder und Jugendliche direkt mit der dualen Ausbildung
und der Industrie in unserer Region in Kontakt, die gut bezahlte Arbeitsplätze und damit Einkommen sichert sowie Konsum stärkt. Aber dafür braucht die Industrie Aufmerksamkeit und Verständnis in der Gesellschaft. Nur, wenn wir Industriebegeisterung wecken, können wir ihre Bedeutung als Motor für Wohlstand und Innovation nachhaltig vermitteln.
Bildunterschrift: Kirsten Wittke-Lemm, Hauptgeschäftsführerin der Unternehmerschaft Niederrhein blickt auf das Jahr aus Sicht der Wirtschaft in der Region zurück.
Mehr als ein Arbeitgeberverband: Die Unternehmerschaft Niederrhein bietet ihren Mitgliedsunternehmen eine Kompetenz-Flatrate durch ein multiprofessionelles Experten-Team. Von arbeitsrechtlicher und arbeitswissenschaftlicher Beratung über
tarifpolitische Fragen bis hin zu Öffentlichkeitsarbeit und Weiterbildung – Mitgliedsfirmen bekommen bei der Unternehmerschaft Niederrhein das Rundum-Sorglos-Paket. Aktuell wird es von rund 800 Unternehmen mit ca. 90.000 Beschäftigten in Anspruch genommen. Verbandsgebiet ist der linke Niederrhein.
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