Programmbekanntgabe mœrs festival 2019
Wild, frei und eigensinnig – handverlesen, unerwartet und grenzüberschreitend
Seit 1972 bricht das moers festival mit Normalitätserwartungen an Musik und ist ein Versprechen an das Ungezähmte jenseits des Mainstreams. Für die 48. Festivalausgabe fordert das moers festival: „Strengt euch an!“
Wir haben uns angestrengt und es ist gewiss, dass wir euch kein Festival verpassen, nach dem ihr beruhigt und
widerspruchslos nach Hause geht. Mit Experimenten, Schwerpunkten, Statements, Ausbrechern, Piraten und
Gefährten behauptet moers das stete doch! in einer verwirrenden Welt, die dringend Utopien und Träume braucht.
Fangen wir mal hinten an:
Gefährten. Das Festival 2019 endet in Doppelquadrophonie im Schlosspark mit La Colonie de Vacances, einer von
insgesamt sieben französischen Gruppen, die an den vier Moerser Pfingsttagen auftreten. So auch der bretonische
Dudelsackspieler Ervan Keravec, der die Grenzen seiner urban pipes auslotet und neues Dudelsackland entdeckt.
Oder Die Hochstapler, die in Komplizenschaft mit Ikui Doki die Composer Kids vom Niederrhein zu musikalischem
Wagemut anstiften. Abacaxi, Audioschnipsel in Lichtgeschwindigkeit, BaKos, minimalistisch groovende rhythmische Verschachtelungen – die französische Szene ist reich und mutig und wir freuen uns drauf!
Schwerpunkte … setzt ja irgendwie jedes Festival. Wir gehen davon aus, dass auch in diesem Jahr der „Fokus
Pyongyang“ scheitert – trotz starker Begegnungen und gegenseitiger Neugier … wir warten ab! Das verrückte
„Japanese New Music Festival“ unterwandert sogar das moers festival mit Trash, Anarchie und Humor – neun Auftritte in vier Tagen! Dazu die Autotune-Pop-Dekonstruktivisten vom Tokioter Yasei-Collective und der Frequenzen-Ultra Toshimaru Nakamura. Und dann: São Paulo! Wir treffen einen höchst fidelen Tom Zé mit wachen Augen und Ideen.
Der Mitbegründer des Tropicalismo ist mit 82 Jahren noch immer Rebell. Danach Rodrigo Brandāo, spoken word-
Poet, politisch, entschieden. Kein Wunder – im aktuellen Brasilien. Begegnen Mariá Portugal von Quartabê und schließlich dem Herzstück und Ausgangspunkt aller vielversprechenden Entwicklungen der Megacity: Metá-Metá und die Clube da Encruza. Sie werden es den Japanern gleichtun und Moers mit ihren absurden Sambas und Experimenten überziehen. Statements. Wir legen uns fest: Analogtechnik klingt besser! Und – wenn die Bands schon nicht auf dem diesjährigen Plakat stehen – da steh’n sie drauf. Zum Beispiel bei der Live-Weltpremiere von Anguish (um Mats Gustafsson und Mitglieder von Dälek) mit ihren dystopischen Abgründen oder EX EYE (um Colin Stetson), deren Kraft und Virtuosität der ungeglättete Klang viel besser weiterträgt. So kommt auch Elektroniker Andrea Taeggi mit drei ARP-Synthezisern aus dem Präkambrium zu uns („The Third Eye Squeegee“, eine Kooperation mit den Willem-Twee-Studios in ’s-Hertogenbosch).
Wir diskutieren: darüber, ob Musik das Wichtigste ist. Oder der Sound, das Licht oder Wahnsinnssoli…
in unseren „discussions“ geht es um Moers als guten und besonderen Ort, um Fokussierung, ums Reflektieren. Wir
entmündigen nicht: Unsere Pressekonferenz, unser Plakat, das Bühnenbild und natürlich das Festivalprogramm fordern Publikum, Künstlerschaft, Fachwelt und Partner. Wer nicht mehr kann, nimmt sich eine Schwimmnudel und wird nachts passiv beim Unterwasserkonzert im Aktivbad … (Badesachen also nicht vergessen!).
Doch Vorsicht vor Piraten! Serbische Freibeuter schlagen ihre Kafana im Festivaldorf auf und improvisieren ihre
hundertjährigen Lieder abendlich weiter. An Bord: Kapitän Hayden Chisholm und seine jüdisch-indisch-jugoslawische Zigeunerbande aus dem Belgrader Stadtteil Dorçol. Und hütet euch davor, in eine der sechs konspirativen moers sessions des kompromisslosen Jazz-Ausbrechers Jan Klare zu geraten. Es ist nichts sicher dort und immer ein Sprung ins kalte Wasser. Manche Ausbrecher sind so jung oder verwegen, dass sie sich an nichts erinnern und einfach drauflos machen wie black midi aus London, Crack Cloud aus Kanada, die Killing Popes (de/uk) oder Širom aus Slowenien.
Andere wieder (z.B. Mitglieder des gefürchteten „Filmclub Klappe“) kapern nur bewegte Bilder oder erfinden neue:
Die belgische Flat Earth Society verpasst dem Ernst-Lubitsch-Stummfilmklassiker „Die Austernprinzessin“ einen neuen Soundtrack, Frank Niehusmann erweist dem Ende des Bergbaus seine Ehre mit imposanter „Untertagemusik“ und Korhan Erel klangwandelt mit Malte Jehmlich livezeichnerisch dem Geist der Maschine nach…
Jede Menge Experimente. In Moers wird nicht à la carte gekocht oder serviert. Unsere Reisen führen uns nur selten
an die Orte, wo sowieso alle Agentinnen und Programmmacherinnen (und auch die vielen männlichen) sind, sondern wir gehen ins Feld und suchen. „Wir“ sind Musiker, Ethnologen, Querdenker, Nerds, Musikliebhaber … Manchmal scheitern wir – und manchmal kommen wir reich beschenkt zurück mit dem Ergebnis, dass wir sagen: „Die müssen wir in Moers auf die Bühne bringen!“
So kommt es in Moers zu exklusiven und singulären Konstellationen: Das Zusammentreffen von Marshall Allen (ts), Rodrigo Brandāo (spoken word), Toshimaru Nakamura (elec) und Günter Baby Sommer (dr) wird ein Unikat. Ein
Weiteres wird das Moers-Meeting von Peter Evans (tp), Phil Minton (voc) mit Atsushi Tsuyama (b) und Tatsuya Yoshida (dr). Und Sonderprojekte: Dank der Unterstützung der Kunststiftung NRW können kühne Konstellationen wie das diesjährige „GLOBAL IMPROVISERS ORCHESTRA“ realisiert werden. Hier treffen zehn Musiker*innen aus neun Ländern und vier Kontinenten für eine Probenwoche zusammen, um in Moers eine Welturaufführung zu zelebrieren. Auch die „MOERS ABSTRACTIONS“ sind als Idee des moers festival nur durch die Förderung der Kunststiftung NRW zu realisieren. Mit Blick auf die legendäre Scheibe „Jazz Abstractions“ von Gunther Schuller ermunterte Tim Isfort Vince Mendoza, eine Komposition für zwei besondere Klangkörper zu schreiben: das Ensemble Musikfabrik NRW und die WDR Big Band verlassen ihr gewohntes Terrain, um gemeinsam mit Solist Joshua Redman auf musikalische #-fahrt zu gehen …
Angelika Niescier kommt mit ihrem New York Trio zurück nach Moers. Die improviser in residence 2008 trifft dabei
auf die Trondheim Voices – neue klangliche Texturen sind garantiert. Der aktuelle, zwölfte improviser in residence
Emilio Gordoa, präsentiert sein speziell für das Festival konzipierte M0VE Quintet und ist außerdem ebenfalls unter Wasser zu erlauschen.
Und natürlich wird die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Begrifflichkeiten „Jazz“, „Avantgarde“, „freie Improvisation“ – live (z.B. im WDR3 Hörfunk am 08. Juni um 20:00 Uhr mit DBLW – Boulez Materialism – Dell, Brecht, Lillinger, Westergaard), in Farbe (fast alle Konzerte aus der Halle und dem Festivaldorf werden im Live-Stream bei ARTE zu sehen und dann für sechs Monate als Video on demand in der arte – Mediathek verfügbar sein) sowieso omnipräsent verhandelt: Soloauftritte verschiedener Künstler (u.a. Colin Stetson, Yegor Zabelov, Sein Hla Myaing…) an ungewöhnlichen oder unprätenziösen Orten, Konzerte junger Gruppen aus Österreich (chuffDRONE), Belgien (MDC III), England (Ill Considered) u.v.m.
Am Schluss der Anfang: Wir eröffnen die 48. Pfingstfestspiele zu Moers bei selbstverständlich gutem Wetter mit einer kathartischen Verbeugung vor einem Giganten. Die vier Protagonisten aus N.Y.C. rufen uns im kollektiven Psalm zu:
Scatter the atoms that remain! Und vielleicht ist das ja gar nicht so anstrengend …!?
Das moers festival wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), dem
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, der Stadt Moers sowie der Kunststiftung NRW, dem Kulturraum Niederrhein e.V. und der Kulturstiftung der Sparkasse am Niederrhein.
Medienpartner sind ARTE Concert und das Kulturradio WDR3.